Lift retten heisst Architektur retten

Zur charakteristischen Architektur eines Wohnhauses von Ernst Gisel in Zürich gehört ein runder Lift. Was tun, wenn dieser den Sicherheitsanforderungen nicht mehr genügt ?

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Über viele Jahrhunderte hinweg führten begrenzt verfügbare Rohstoffe und kostspielige Beschaffungsmethoden zu einem bewussten Umgang mit Baumaterialien. Das widerspiegelte sich in einer nachhaltigen und regionalen Baukultur. Das wirtschaftliche Haushalten mit Ressourcen war eine Selbstverständlichkeit, die zugleich die Langlebigkeit von Bauwerken und deren Nutzung über mehrere Generationen sicherstellte. Obwohl Ideen für eine ressourcenschonende Bauwirtschaft unterdessen breit diskutiert werden, sind Beispiele für die kluge Weiternutzung des Bestands immer noch selten. Gerade im Bereich komplexer technischer Anlagen sind Re-Use-Konzepte unterrepräsentiert. So werden etwa Aufzugsanlagen aus Standardproduktion oftmals bereits nach 20 Jahren vollständig ersetzt.

 

Ein alternativer Ansatz, der die Modernisierung und Weiterverwendung des Bestands dem Ersatzneubau vorzieht, ist aber auch im Spezialsegment des Liftbaus möglich. Dass es dabei mitunter um mehr als nur den Lift geht, zeigt das Wohnhaus des renommierten Architekten Ernst Gisel (1922–2021) an der Clausiusstrasse in Zürich. Aufgrund veralteter Sicherheitskonformität hatte die Stadt die Stilllegung der bestehenden Liftanlage aus den 1960er-Jahren angeordnet. In den meisten Fällen lautet die Reaktion auf eine solche Situation: den alten Lift entsorgen und mit einem neuen ersetzen. Was auf den ersten Blick naheliegend und kostengünstig erscheint, ist aber nicht nur ökologisch fragwürdig. An der Clausiusstrasse hätte ein Ersatz auch radikale Eingriffe in das Gebäude mit sich gebracht. Durch eine massgeschneiderte Lösung gelang es, grosse Teile der Liftanlage zu erhalten und die wertvolle Bausubstanz unangetastet zu lassen.

 

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Alte Liftsteuerung.

 

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Alte Führungsschienen – hier vor der Sanierung – haben eine fast unbeschränkte Lebensdauer.

 

Prägnanter Zylinder

Das Wohnhaus an der Clausiusstrasse tritt entsprechend den spätmodernen Gestaltungsprinzipien schlicht und elegant in Erscheinung. Mit 16 effizient organisierten Kleinwohnungen auf vier Geschossen reagierte Ernst Gisel auf den hohen Kostendruck, der bereits im Baujahr 1961 auf den Grundstückspreisen des Universitätsviertelslastete. Um das schmale Grundstück optimal auszunutzen, orientierte er die Wohnungen diagonal Richtung Südwesten zum See hin, was in der gefalteten Abwicklung des obersten Stockwerks plastisch zum Ausdruck kommt. Das Grundrisskonzept der Kleinwohnungen ermöglicht das Durchwohnen: Die Küche ist jeweils zur nordseitigen Erschliessungsgalerie hin angeordnet, während der unmittelbar anschliessende offene Wohn- und Schlafraum auf die Südseite ausgerichtet ist. Grosszügige Fensterfronten und vorgelagerte Loggien bieten Ausblick auf das Alpenpanorama. Hochwertige Materialien wie hellgrauer Kunststeinboden, Metalltüren, Türgriffe und Fenster aus Holz ermöglichen eine problemlose Wartung und sind auf eine langfristige Erhaltung ausgelegt.

Charakteristisch für die skulpturale Anmutung des Hauses ist schliesslich der runde Treppen- und Aufzugsturm. Er liegt prominent an der Strassenkreuzung und zeugt von einer zeittypischen Auto- und Technikfaszination: Innen schwingt sich eine Treppe um den rund geschalten Liftschacht, aussen betont die kreisförmige Zufahrt zur Garage die prägnante Zylinderform. Plastisch auf den Aufzugsturm aufgesetzte Fenster unterstreichen den körperhaften Ausdruck. Sie werfen ein sanftes Streiflicht ins Innere, das die konkave Rundung des Treppenhauses akzentuiert. Nicht nur formal bildet die Vertikalerschliessung den Dreh- und Angelpunkt des Hauses. Vom Podest aus gelangen die Bewohner zu je einer Wohnung sowie zum aussen liegenden Laubengang, der drei weitere 1- und 2-Zimmer-Wohnungen erschliesst.

 

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Sonderanfertigung für einen aussergewöhnlichen Schacht.

 

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Die neue Aufzugskabine hat abgeschrägte Ecken – wie das Original.

 

Der Lift als Pièce de Résistance

Zwar toleriert das Liftamt der Stadt Zürich den Betrieb älterer Liftanlagen, auch wenn sie die aktuell geltenden Sicherheitsnormen nicht mehr erfüllen – allerdings nur für eine gewisse Zeit. Danach muss die Bauherrschaft den Anforderungen nachkommen. Der Komplettersatz ist in solchen Fällen noch immer die Regel, erhält die Bauherrschaft zu einem vermeintlich günstigen Preis doch eine neue und frisch zertifizierte Anlage. Dass ein neuer Standardlift häufig eine kürzere Lebensdauer hat als eine hochwertige und sorgfältig modernisierte bestehende Anlage, wird oft zu wenig bedacht. Auch dass ein Komplettersatz meist bauseitige Arbeiten mit sich bringt, die im Preis nicht enthalten sind, wird bei der Evaluierung kaum berücksichtigt.

An der Clausiusstrasse erwies sich der runde Liftschacht buchstäblich als Pièce de Résistance: Seine Dimension und Geometrie waren für die Hersteller von Standardliften zu aussergewöhnlich, als dass sie einen neuen Lift hätten einbauen können. Es blieben also nur zwei Optionen: Abriss des bestehenden Liftschachts und Einbau einer neuen Anlage mitsamt Schacht oder die Stilllegung des Aufzugs und der Bau einer neuen Liftanlage an anderer Stelle im Gebäude. Beide Varianten hätten tiefgreifende Auswirkungen auf die Organisation des Hauses und seine charakteristische Architektur gehabt und die Vernichtung vorhandener Ressourcen nach sich gezogen. Die Liftspezialisten von Emch schlugen einen anderen Weg ein: Sie konzipierten eine massgeschneiderte Anlage, die in den runden Schacht passte, identifizierten die dafür weiterverwendbaren Bauteile des Bestands und ergänzten nur Notwendiges. Das wirkte sich positiv auf Kosten und Montagezeiten aus und ermöglichte erhebliche CO2-Einsparungen. So konnten alle nach aussen hin sichtbaren Komponenten – sowohl Liftschacht und Maschinenraum als auch Schachttüren und Führungsschienen – entsprechend den Prinzipien des zirkulären Bauens einem neuen Lebenszyklus zugeführt werden.

Die aus Stahl gefertigten Führungsschienen der Kabine haben eine fast unbeschränkte Lebensdauer und konnten problemlos weiterverwendet werden. Anstelle der nicht mehr zulässigen Führungsdrähte für das Gegengewicht wurden zwei Führungsschienen an speziell gefertigten Eisenhaltern platzsparend angeordnet. Bei den Schachttüren mit ihren für die Bauzeit typischen Vollholzgriffen genügte eine sanfte Auffrischung. Besonders im Erdgeschoss ist man dankbar für diesen Erhalt, wurden die Tür zum Laubengang sowie die Briefkastenanlage doch ursprünglich im selben blaugrauen Farbton gestaltet. So blieb die einheitliche Eingangssituation erhalten. Das Drahtglas der Sichtfenster wurde durch normkonformes Sicherheitsglas ersetzt. Eine elektromechanische Fehlschliesssicherung ergänzt, kaum sichtbar, den zuvor rein mechanischen Öffnungsmechanismus der Drehflügeltüren. Bei allen Komponenten wurde sorgfältig abgewogen, ob das Ende des Lebenszyklus tatsächlich erreicht war oder ob mit einem Teilersatz von einzelnen Elementen eine Weiterverwendung möglich wäre.

 

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Von aussen sieht er aus wie immer: der modernisierte Lift.

 

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Dank den abgeschrägten Ecken und der Falttür fügt sich die neue Kabine ohne Platzverlust in den kreisrunden Schacht.

 

Verschiedene Fähigkeiten sind gefragt

Die bestehende Holzkabine durfte wegen der Brennbarkeit nicht weiterverwendet werden. Der kreisrunde Schacht verunmöglichte jedoch die Verwendung einer Standardliftkabine aus Blech. Hinzu kamen die ohnehin schon knappen Dimensionen, die sich mit einer Standardlösung weiter reduziert hätten, führt die Anpassung alter Anlagen an neue Sicherheitsanforderungen im Normalfall doch zu einer Verkleinerung der Kabinenfläche. Früher hatten Liftkabinen üblicherweise nur eine Tür, sodass man die Schachtwand während der Fahrt an sich vorbeiziehen sah. Um die Verletzungsgefahr zu verringern, ist heute eine zusätzliche Kabinentür erforderlich. Aus Platzgründen wurde sie an der Clausiusstrasse als Falttür ausgebildet. Die Emch’sche Spezialanfertigung nutzt die Platzverhältnisse des Schachts optimal aus. Das Konzept der abgeschrägten Ecken der ursprünglichen Kabine wurde aufgenommen. Insgesamt führte die effiziente Platzierung des Kabinentableaus und seiner Elektronik sogar zu einer leichten Vergrösserung der Grundfläche.

Die erfolgreiche Weiterverwendung von komplexen technischen Bauteilen verlangt nach verschiedenen Fähigkeiten: Es braucht den Willen, die Sensibilität und die Expertise, um den Wert des Vorhandenen zu erkennen und richtig einzuschätzen. Genauso wichtig sind spezifische Fähigkeiten in der Konzept- und Ingenieurarbeit sowie in der technischen und handwerklichen Umsetzung. Das Wohnhaus an der Clausiusstrasse macht deutlich, dass die Kreislaufwirtschaft nicht nur zu einer Reduktion von Materialflüssen beiträgt, sondern auch qualifizierte Spezialisten fördert. Hinter dem unverändert erscheinenden ikonischen Bauwerk der Spätmoderne verbirgt sich heute ein nachahmenswertes Beispiel zirkulärer Bauwirtschaft. Die Leistung des Liftbauers liegt hier in der Einpassung einer Kabine in einen unkonventionellen Schacht und in der Folge in der Vermeidung eines unverhältnismässig ressourcenaufwendigen Umbaus des Gebäudes. Zudem weist der Lift an der Clausiusstrasse über die spezifische Lösung hinaus: Er steht auch beispielhaft für das Verständnis, das Emch für die Qualität und den Zustand der einzelnen Bauteile und ihre adäquate Ergänzung hat. Damit stösst Emch ein Umdenken im Bereich der komplexen Bauteile an – oder vielmehr eine Rückbesinnung auf Pflege, Werterhalt, Reparaturfähigkeit und Sorge für aufwendig und energieintensiv hergestellte Gebäude.

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