«Schön», beginnt Martha. «Wir haben die Geschichte schon lange nicht mehr erzählt. Dabei mögen wir es beide, in diesen Erinnerungen zu baden.» Sie trägt ein weinrotes Wollkostüm, darunter eine Seidenbluse mit schwarzer Stickerei. Erwartungsvoll blickt sie Heiri an. Der Mann strahlt Ruhe und Zufriedenheit aus. Mit Béret, Fliege und Hosenträger zum Karohemd hat er sich für den Ausflug in die Stadt schick gemacht. Beide sind achtzig. Von ihrem Zuhause in Burgdorf sind sie für einen Ausflugstag nach Bern an den Zibelemärit gefahren und haben Zeit mitgebracht, für ein paar Stunden ins nahe gelegene Bern Bümpliz zu kommen und ihre ganz persönliche Liftgeschichte zu erzählen.
Martha und Heiri sitzen auf ihren Stühlen wie ein frisch verliebtes Paar. Verheiratet sind sie schon seit 1964, so richtig zusammengekommen sind sie zwei Jahre vorher. Zum ersten Mal gesehen haben sie sich jedoch viel früher, Ende 1955, wie sie sich beieinander vergewissern. «Es war ein kalter, windiger Tag im November, dem heutigen Tag ganz ähnlich, und die Bäume standen schon ohne Blätter», erinnert sich Martha. Den genauen Tag wissen sie nicht mehr. Sie können sich an jedes Detail, aber nicht an das Datum erinnern. Erst sieben Jahre später treffen sie sich erneut, auf einer Tanzveranstaltung in Bern. «Und als ich ihn wiedersah, verflogen diese langen sieben Jahre – als ob erst eine Woche vergangen gewesen wäre.» – «Ja», bestätigt Heiri, «sie hatte sich überhaupt nicht verändert.» Martha lächelt. «Mein damaliger Verlobter, der Urs, war schlecht gelaunt nach diesem Abend. Immer hätte ich bei diesem Mann gestanden. Urs war ein feiner Kerl, aber als ich meinen Heiri wiedersah ... war es um mich geschehen.»
Emch-Aufzug aus den späten 1920er-Jahren:
Kabine mit Scherengitterabschluss und Schachttür aus Maschendraht.
Sie drehen sich auf ihren Stühlen ein wenig mehr zueinander, Heiri erklärt: «Und diesmal war ich so hellsichtig, mit Martha zu einem der Kellner zu gehen, mir Stift und Papier geben zu lassen, um die Adressen zu tauschen, damit ich diese Frau nicht nochmals aus den Augen verliere. Ein solch intensives Erlebnis wie 1955 im Aufzug in der Berner Kornhausstrasse widerfuhr mir nie wieder.» Ob sie danach noch einmal in dem Gebäude, in dem Lift gewesen seien, will Martha erst die Gittertür aufmachte, dann das hölzerne Scherengitter der Fahrstuhlkabine zusammenschob, stellten sie beide fest, dass es eng werden würde, zusammen mit dem Paket. Heiri liess Martha den Vortritt, dann stellte er sich neben sie in die Kabine und verkantete das Paket in der anderen Ecke. So standen sie dicht beieinander. Martha, die die Schalttafel neben sich hatte, fragte nach dem Stockwerk, in das er müsse. Heiri peilte die oberste, dritte Etage an, Martha die zweite. «Nicht viel Fahrzeit, dachte ich sofort.» Marthas Stimme ist leicht erregt. «Dennoch weiss ich bis heute nicht, was mich getrieben hat, mit einer unverfrorenen Selbstverständlichkeit auf den roten Haltknopf zu drücken.» Sie denkt kurz nach: «Es war wohl dieser rasche Wechsel aus Erwartung und Enttäuschung. Zuerst die Freude, mit diesem Mann allein zu sein, und im nächsten Augenblick der Gedanke, dass in wenigen Sekunden die Fahrt zu Ende sein würde.» – «Ich hatte diesen roten Knopf ja auch gesehen», sagt Heiri, «aber ich hätte mich niemals getraut – vielleicht hätte sie einen Überfall befürchtet. So war ich wie elektrisiert, als Märtheli den Aufzug anhielt. Ich nahm sie in meine Arme und habe sie geküsst.» Martha schaut ihn an und drückt mit beiden Händen seine rechte Hand: «Wie im Film. Augenkontakt, Lächeln, Berührung. Ich war siebzehn, es war der erste richtige Kuss meines Lebens. Ich vergass alles um mich herum. Bis dann jemand sehr laut und empört rief, dass ein Lift kein Spielzeug sei. Und er hämmerte von oben gegen das Gitter.» – «Für uns beide war es so, als ob wir aus einem Traum gerissen worden wären», meint Heiri. «Wir drückten erneut den Knopf für die zweite Etage und fuhren die restlichen paar Meter hoch. Martha trat hinaus – da war dieser letzte sehnsüchtige Blick.
Und selbst beim Herunterfahren, als ich das Paket oben abgegeben hatte, kam ich nicht auf die Idee, bei den Wohnungen in der zweiten Etage zu klingeln und nach ihr zu fragen. Ich spürte und wusste aber, dass ich sie wiedersehen würde. Dass bis dahin aber sieben Jahre vergingen, war dann doch etwas sehr lang.» – «Ja», stimmt Martha zu, «aber ohne diesen Aufzug und die plötzliche intime räumliche Nähe zueinander, ohne diese gestohlenen Sekunden zwischen den Etagen, hätten wir nie erfahren, dass wir zusammengehören.»
Martha und Heiri Küpfer, Bern 2017.